Motocross ist eine der anspruchsvollsten Sportarten, für die man sehr vielseitig trainieren muss. Wie ein Vollprofi das enorme Trainingspensum absolvieren kann, ist vorstellbar. Aber wie sieht das denn bei den ADAC MX Masters-Piloten aus, die unter der Woche ganz normal arbeiten gehen? Die schnellen Koch-Brüder geben Einblicke in ihren Trainingsalltag und welche Unterschiede es zwischen Vollprofi Tom und dem Vollzeit arbeitendem Tim gibt.
Tim und Tom Koch eignen sich hervorragend für den Vergleich, denn der Gen-Pool der zwei Brüder dürfte ziemlich gleich sein. Tim ist mit 30 Jahren der Ältere, Tom ist fünf Jahre jünger. Tim geht unter der Woche ganz normal arbeiten, konnte dennoch 2021 Deutscher Motocross Meister der Open-Klasse werden. Tom ist seit ein paar Jahren Vollprofi, lebt nur vom Motocross und konnte in den vergangenen drei Saisons jeweils in die Top-Drei der ADAC MX Masters Gesamtwertung fahren. Beide arbeiten mit demselben Trainerteam der KS-Sportsworld zusammen. Ihr Chef, Dr. Konrad Smolinski, ist anerkannter Sportwissenschaftler, hat seine Wurzeln im Triathlon und Ausdauer-Bereich und eine große Leidenschaft für Motocross. Smolinski kann den größten Unterschied zwischen den zwei schnellen Brüdern klar benennen: „Bei einem Vollprofi wie Tom, liegt der volle Fokus auf dem Sport. Das ist seine oberste Priorität und seine Alltags-Verpflichtungen wie Büroarbeit, Einkaufen, Familie, Freundin und so weiter müssen sich dem Training und Wettkampf unterordnen. Damit kann ich ihm einen Trainingsplan erstellen, der optimal auf den sportlichen Erfolg ausgelegt ist und mit einem weißen Blatt Papier anfangen. Bei Tim ist es genau andersherum. Dessen Alltag wird zunächst durch den Broterwerb bestimmt und ich muss mich detailliert mit ihm auseinandersetzen, wo er überhaupt Zeitkapazitäten für das Training besitzt. Ich muss Tims Trainingsplan um sein Arbeits- und Alltagsgerüst drumherum basteln und versuchen, daraus das Optimum zu gestalten, das er realistisch umsetzen kann.“
Tom kann durch die größere Zeitkapazität viel mehr, längere und intensivere Trainingseinheiten auf dem Motorrad und abseits davon pro Woche absolvieren als Tim. Während bei Tom das Training die Arbeit ist, muss Tim sein Training um die Arbeit herum organisieren. Das heißt dann mitunter früh aufstehen. „Am Dienstag und Donnerstag klingelt mein Wecker bereits um 5:15 Uhr“, erklärt Tim. „Dann stehe ich auf und gehe direkt eine Einheit Lauftraining absolvieren, bevor ich zur Arbeit gehe. Nach der Arbeit folgen in der Regel eine weitere Einheit sowie Stretching.“ Der Wille und Einsatz von Tim sind enorm und auch nicht selbstverständlich. „In den letzten zehn Jahren als Trainer in allen Sportarten, die ich betreue, ist Tim eine von vielleicht fünf Personen, die so viel Leidenschaft und Einsatz für den Sport neben der Arbeit zeigen“, ist er beeindruckt über seinen Schützling. Tim erklärt: „Meine Einstellung ist die: ich möchte mich mit den Vollprofis messen und mit ihnen mithalten, also muss ich auch so ähnlich trainieren wie sie. Wenn das bedeutet, dass ich früh aufstehen muss, dann ist das halt so.“ Während Tom in der Mittagssonne draußen eine dreistündige Grundlagenausdauer-Einheit auf dem Rennrad absolvieren kann, muss sich Tim oft am Abend im Sportraum noch 90 Minuten auf die Radrolle setzen.
Auch beim Fahrtraining gibt es Unterschiede. Tim und Tom haben vom Prinzip dieselbe „Grundausbildung“ erhalten, zum Beispiel durch den ADAC Hessen-Thüringen und dessen Kadertrainer Collin Dugmore, der den beiden nach wie vor zur Seite steht, immer wieder Tipps gibt und ein Ansprechpartner für Fragen geblieben ist. Tom arbeitet seit ein paar Jahren mit dem Ex-Profi und Mannschafts-Weltmeister Marcus Schiffer als Fahrtrainer zusammen. Schiffer begleitet Tom bei fast jeder Motorrad-Trainingseinheit sowie den Rennen. Um noch enger zusammenarbeiten zu können, hat Tom seinen Wohnsitz aus seiner Heimat Thüringen in das Kölner Umland verlegt, direkt neben die Wohnung von Schiffer. „Seitdem ich eng mit Marcus zusammenarbeite, bin ich in vielen Details des Fahrens noch besser geworden. Er achtet auf viele Kleinigkeiten und gibt mir viele Tipps, weist mich immer wieder auch auf Details hin. Dadurch, dass Marcus selbst ein Spitzenfahrer war, erkennt er vieles, beobachtet auch andere Fahrer und gibt mir viele Anregungen. Wir diskutieren auch über die Linienwahl und vieles mehr. Das ist eine große Bereicherung für mich.“ Tim hat keinen speziellen Fahrtrainer, schließt sich aber oft und gerne anderen Trainingsgruppen, wie der von Hannes Volber, an. „Das pusht einen schon mehr, wenn man mit anderen schnellen Fahrern zusammen trainiert. Hannes und ich kennen uns schon so lange, der gibt mir dann auch öfter Tipps, wenn ihm etwas auffällt.“
Tom sitzt in der Regel an vier Tagen in der Woche auf dem Motorrad, zwei Tage unter der Woche und dann am Wochenende. Tim konnte in der Vergangenheit oft nur am Wochenende auf dem Motorrad trainieren. Mit seinem Arbeitgeber hat er inzwischen ausgehandelt, dass er während der Saison und in der letzten Vorbereitung zumindest an einem Tag während der Woche frei bekommt, um nun einen dritten Tag auf dem Motorrad verbringen zu können. „Das Training auf dem Motorrad ist das wichtigste“, sind sich Konrad, Tom und Tim einig. Nichts ersetzt das sportartspezifische Training. Bei Tim ist es oft der Freitag, der in der Vorsaison sein zusätzlicher Trainingstag ist. Doch drei Tage hintereinander Motocross zu fahren, ist auch eine hohe Belastung. „Mein Bruder kann oft ein intensiveres Training auf dem Motorrad absolvieren, wenn er zwei Tage hintereinander in der Woche fahren geht, dann ein, zwei Erholungstage hat und dann wieder zwei Tage am Stück fahren kann.“ Auch die Trainingsmöglichkeiten sind ein Unterschied zwischen den Brüdern. Tim hat nicht die Zeitkapazitäten und dasselbe Budget zur Verfügung wie Tom, um bei schlechtem Wetter auch mal weiter weg zum Training zu fahren.
Für Trainer Smolinski liegt ein weiterer Unterschied in der Feinheit der Zusammenarbeit. „Mit Tom führe ich jede Woche ein zweistündiges Zoom-Coaching durch und wir tauschen uns fast täglich miteinander aus. Tim bekomme ich nur einmal in der Woche im Rahmen von einem Gruppen-Workout zu sehen und wir schaffen es vielleicht einmal im Monat, ein individuelles Zoom-Coaching zu absolvieren. Mit Tom kann ich an viel detaillierteren Dingen arbeiten, während ich bei Tim schauen muss, was er überhaupt innerhalb seines Zeitrahmens umsetzen kann.“ Die Regeneration ist für jeden Sportler ein ebenso wichtiger Bestandteil des Trainings wie die Belastung durch die Trainingseinheiten. Smolinski erklärt: „Regeneration ist ein weit gefächerter Begriff. Regeneration heißt nicht nur, dem Körper Ruhe zu geben, indem man nichts macht oder schläft. Regeneration heißt auch Stretching, zum Physiotherapeuten gehen, Massagen zu erhalten, Meditation und vieles mehr, was man aktiv tun kann, um die Regenerationsprozesse des Körpers zu beschleunigen oder verstärken.“ Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, dass es für Tim innerhalb seines vollen Tagesplans weitaus schwieriger ist, deutlich mehr Regenerationseinheiten als das allabendliche Stretching zu absolvieren. „Die moderne Sportwissenschaft hat herausgefunden, dass der Schlaf sehr wichtig ist für die Regeneration und ein Spitzensportler acht bis zehn Stunden Schlaf benötigt. Bei Tim lassen wir deshalb ab und zu schonmal eine frühe Trainingseinheit ausfallen, wenn wir der Meinung sind, dass es ihm mehr nutzt, eine Stunde länger zu schlafen als eine Stunde vor der Arbeit laufen zu gehen. Bei Tom stellt sich dieses Problem nicht“, führt Smolinski aus. „Ich muss der Meister der Erholung sein“, lacht Tim, denn bei so einem vollen Plan aus Arbeit und Training muss er darauf achten, dass sein Körper nicht überlastet wird. „Gesunde Ernährung spielt da auch eine wichtige Rolle, um nicht krank zu werden bei dem ganzen Programm.“
Im vergangenen Jahr beendete Tim Koch das ADAC MX Masters auf dem sechsten Gesamtrang, wie auch schon 2019, und war bester Nicht-Vollprofi, platziert vor einigen Profifahren. Wie schafft er es trotz seiner Arbeit und des eingeschränkten Zeitrahmens, auf absolutem Spitzenlevel zu fahren? „Tim kommt seine immense Erfahrung zugute. Er weiß inzwischen, was er tun muss, um das Optimum aus sich und seinen Möglichkeiten herauszuholen. Mental hat er sich in den letzten Jahren stark verbessert und hadert nicht mehr damit, dass er nicht so viel Zeit hat wie ein Vollprofi oder über Dinge, die er in der Vergangenheit hätte anders tun können oder sollen. Das macht ihn so stark“, schließt Smolinski ab. Wenn ihr an der Rennstrecke steht und Tim Koch und die anderen Nicht-Vollprofis an euch vorbeifahren, dann feuert sie gerne ein bisschen extra an, denn Fahrer wie Tim leisten aus ihrer Leidenschaft zum Sport enorm viel neben Arbeit & Co.