Drei Rennen an drei Wochenenden sind in dieser Saison ausständig. Und auch wenn sich Joan Mir vorne leicht absetzen konnte, er mehr Konstanz zeigt, weniger Fehler macht und weniger schlechte Wochenenden hatte als die Konkurrenz, würde ich ihn nicht zum WM-Favoriten erklären. Denn 2020 hat uns gelehrt, dass es immer anders kommt, als man denkt. Wir haben noch 75 Punkte zu vergeben, die Top 6 liegen eng beisammen, allein mit einem Sieg bist du sofort wieder in Schlagdistanz. Nicht einmal aus der Startaufstellung heraus kann man in diesem Jahr einen möglichen Rennausgang herausinterpretieren. Zudem sind am kommenden Wochenende in Valencia wechselnde Bedingungen mit Regen vorhergesagt, was Prognosen noch schwieriger macht.
Doch was spricht für wen? Joan Mir hat im Saisonfinish nicht nur 15 Punkte Vorsprung, sondern angesichts seines WM-Triumphs 2017 in der Moto3 auch den Vorteil zu wissen, was es heißt, um Titel zu fahren. Und genau dieser Punkt spricht meiner Meinung nach gegen Fabio Quartararo. Er konnte bisher „nur“ im Jugendalter die spanische CEV-Meisterschaft gewinnen. Maverick Viñales ist wiederum sehr lange dabei, hat die Erfahrung und weiß, wie man mit Druck umgeht. Und dann kommen noch die Unbeschwerten wie Franco Morbidelli, die sich denken, wenn die da vorne nicht wollen, bin ich da.
Wir müssen aber wohl Valencia I abwarten, um eine klarere Tendenz zu erkennen. Die Tatsache, dass alles möglich ist, macht ja diese Saison auch aus. Wenn Álex Rins drei Siege holt und die anderen patzen, kann selbst er noch Weltmeister werden. In Anbetracht der verbleidenden Strecken in Valencia und Portimão muss Andrea Dovizioso hingegen auf schlechtes Wetter hoffen, wenn er noch eine Chance haben will. Für andere Teams wie KTM oder Honda, das gerade unglaubliche Schritte macht, steht ebenfalls noch einiges auf dem Spiel, wenn auch nicht die WM. Wir haben also sechs Titelanwärter, aber dahinter mindestens zehn Partycrasher, denen das komplett egal ist.
Ich bin ja generell von dieser jungen Generation begeistert. Die sind alle extrem gewachsen und haben gezeigt, welch tolle Kerle die MotoGP herausgebracht hat – toughe, smarte Typen, denen man gerne beim Rennfahren zusieht und auch gerne zuhört, wie bodenständig sie alles analysieren und einordnen.
Das Layout des Stadioncharakter aufweisenden Circuit Ricardo Tormo spricht jedenfalls für Yamaha und Suzuki. Bis auf die lange Start-Ziel-Geraden mit über 800 Metern spielt sich alles in einem recht engen, komplizierten Infield ab, wodurch das Rennen über Schräglage, Grip und die Balance des Bikes entschieden wird.
Über dem Showdown schwebt natürlich weiterhin die Angst, aufgrund einer Corona-Infektion aus der Titelentscheidung herausgenommen zu werden. Doch andererseits bleiben wir bis zum Ende der Weltmeisterschaft auf der iberischen Halbinsel. Die meistens Fahrer leben in Spanien oder Andorra, haben keine Kinder, die sie in die Schule bringen müssen und können sich in ihrer eigenen Blase isolieren. Die Fahrer müssten also schon sehr nachlässig sein, wenn sie sich jetzt noch anstecken und sich dadurch die Chance nehmen, ihren Traum zu verwirklichen.
_Zur Person
Alex Hofmann ist ehemaliger deutscher Motorradrennfahrer und TV-Moderator. In der MotoGP-Saison 2020 ist er wieder als Experte und Kommentator für ServusTV live im Einsatz._