Acht Monate nach dem WM-Finale 2019 geht es in Jerez endlich los. Für die Fahrer wird diese Saison zu einer völlig neuen Erfahrung. Jeder freut sich, aufs Motorrad zu steigen und wieder ein bisschen Normalität zu verspüren, selbst wenn keine Zuschauer bei den Rennen erlaubt sind und an der Strecke weniger Personal zugelassen ist. Dadurch geht natürlich die Atmosphäre abhanden, dieses extra Kitzeln fehlt. Aber unter den gegebenen Umständen ist jeder zu diesem Kompromiss bereit.
Vorerst sind 13 Rennen im WM-Kalender fixiert, konstant zu punkten ist in diesem Jahr also das A und O. Man muss mit Köpfchen rangehen und trotzdem attackieren - eine neue Situation für alle Fahrer, selbst ein Valentino Rossi hat solch ungewöhnliche Zeiten noch nie erlebt. Ich gehe auch von der einen oder anderen Überraschung aus, obwohl Marc Márquez der klare WM-Favorit bleibt. Er ist inzwischen so clever und weiß genau, dass ihm oft 85 Prozent reichen.
Nach der unglaublichen Dominanz im Vorjahr denke ich aber, dass ihm die Konkurrenz ein Stück näher gekommen ist. Michelin hat einen neuen Hinterreifen entwickelt, von dem die anderen Teams mehr zu profitieren scheinen als Honda. Franco Morbidelli hat ein Jahr mehr Erfahrung, auch Fabio Quartararo ist kein Rookie mehr und Maverick Viñales wird nach der Vertragsverlängerung gelassener sein.
Gespannt bin ich auf die Entwicklung von Quartararo. Vom Speed her hat er auf jeden Fall das Niveau zu gewinnen. Meiner Meinung nach fehlt ihm nur noch ein bisschen die Rennintelligenz. Doch sobald er den ersten Sieg einfährt, wird ihm eine riesige Last von den Schultern fallen. Auch Rossi ist nicht zu unterschätzen. Es wird Tage geben, an denen der alte Haudegen konkurrenzfähig sein wird. Und Andrea Dovizioso musst du sowieso immer auf dem Zettel haben.
Álex Márquez hingegen wird zunächst lernen müssen, im Weltmeisterteam von Bruder Marc mit dem öffentlichen Druck umzugehen und diesen an sich abprallen zu lassen. Andererseits sollte man ihm auch ein Jahr Zeit geben. Ich habe in Malaysia seine Herangehensweise beobachtet, wie er sich mit dem Bike beschäftigt. Álex ist extrem professionell, Rückschläge werden aber kommen.
Dass zum Saisonstart gleich zweimal innerhalb von einer Woche auf derselben Strecke gefahren wird, ist ebenfalls ein Novum in dieser ungewöhnlichen Saison. Der Grenzbereich dürfte in Jerez vor allem am zweiten Wochenende noch extremer ausgereizt werden, weil die Teams die Abstimmung weiter verfeinern. Tempo und Rundenzeiten werden massiv. Mit seinen schnellen Kurven, engen Haarnadeln und ohne lange Geraden gilt der Cirucito de Jerez - Ángel Nieto als eine bei den Fahrern äußerst beliebte Strecke, auf der alle Fabrikate gut funktionieren. Normalerweise sagt man, dass die WM mit dem Europa-Auftakt so richtig losgeht, weil sich erst beim Großen Preis von Spanien eine Tendenz herauskristallisiert. In diesem Jahr geht es sofort los: Wer in Jerez schnell ist, ist die ganze Saison gut unterwegs.
Zur Person:
Stefan Bradl ist MotoGP-Testfahrer bei Honda und TV-Kommentator. In der neuen MotoGP-Saison analysiert der deutsche Moto2-Weltmeister 2011 die Rennen als Experte für ServusTV wieder live aus der Boxengasse und im Studio.