Wie oft hat man gehört, dass es gegen Marc Marquez kein Rezept gibt und er sich im Grunde nur selbst schlagen kann? Seine unfassbare Darbietung beim Saisonauftakt in Jerez lieferte die traurige Bestätigung. Ob Qualifying oder Rennen: Der Spanier will immer ganz vorne sein und wann immer es einen Rekord zu ernten gibt, treibt ihn dieser zu Höchstleistungen an. Wie nach seinem Ausflug ins Kiesbett von Jerez wirkt der Weltmeister in seinem Denkmuster oft wie ein Wildtier, das in die Enge getrieben wird: Er mobilisiert Stärken und Fähigkeiten, die er womöglich selbst nicht kannte.
Diese Machtdemonstration beim Großen Preis von Spanien war bis zu seinem Sturz derart überwältigend, dass von der Konkurrenz absolut keine Gegenwehr kam. Sie war völlig ohnmächtig und fragte sich wohl: Was tun wir da eigentlich? Doch gibt es auf diesem Globus halt noch Physik und Grenzen.
Die vielen Verletzungen gleich zu Beginn der WM sind meiner Meinung nach kein Zufall, sondern ein Resultat der Umstände. Zunächst gibt es ja die Vorsaisontests, bei denen verschiedene Varianten ausgelotet werden, um ein Paket zu definieren. Dann schnüren die Hersteller dieses Paket und plötzlich stehen die Motorräder monatelang in der Garage - Stillstand. Selbst wenn sich die Fahrer im Lockdown fit halten, kannst du nichts trainieren, was du am Bike erfährst.
In Jerez kam die extreme klimatische Beanspruchung hinzu, die nicht nur das Material ans Limit brachte. In Verbindung mit dem noch nicht offenen Geheimnis des Motorrads kann der Fahrer bei diesen körperlichen Belastungen Verletzungen im Sturzverhalten nicht mehr abwehren. Sogar in der Box gibt es aufgrund der leider notwendigen Masken kein Durchschnaufen. Freilich herrschen in Malaysia auch extreme Bedingungen, aber Sepang ist in der Regel ja das weiß Gott wievielte Rennen im Jahr.
Dass durch die frischen Daten vom Auftaktrennen nun beim Großen Preis von Andalusien auf derselben Strecke das Limit noch weiter ausgereizt wird, glaube ich nicht. Die Grenzen setzt in erster Linie der Mensch und die Jungs haben am vergangenen Sonntag sehr viel Kraft liegen gelassen. Eine vernünftige Regeneration ist in dieser Blase gar nicht möglich. Zudem muss auch das Material die Hitzeschlacht überstehen. Einzig wenn ein Motorrad eine konkrete Schwäche zum Vorschein bringt, kann man daran arbeiten, etwa an der Traktion hinten bei Rossi oder dem Vorderrad von Honda.
Für den Rest des Feldes bedeutet der vorläufige Ausfall von Marquez die Chance des Jahrhunderts. Es kann natürlich sein, dass sich die Wölfe jetzt gegenseitig zerfleischen. Yamaha sehe ich sehr gut aufgestellt, für mich der große Favorit. Fabio Quartararo hat beim Auftaktrennen unglaublich beeindruckt, die Bausteine geschickt aneinandergefügt, ist ruhig geblieben und hat sich auf seine Stärken besinnt. Maverick Vinales wirkt ebenfalls sehr frisch. Andrea Dovizioso konnte wiederum erstmals in Jerez ein gutes Ergebnis erzielen, und die Ducati-Strecken kommen erst. Und auch mit Suzuki wird noch zu rechnen sein.
In diesem Jahr zählen also sicher fünf, sechs Fahrer zu den Titelkandidaten. Und Marquez? Er wird vorerst mindestens zwei Nuller schreiben. Und bei diesem enormen Kalenderdruck mit nur wenigen, dicht aufeinanderfolgenden Rennen dürfte es für ihn trotz seiner nahezu überirdischen Kräfte sehr, sehr eng werden.
Zur Person:
August "Gustl" Auinger ist die österreichische Motorrad-Legende schlechthin und Riding Coach des Red Bull Rookies Cup. In der MotoGP-Saison 2020 analysiert er als Experte für ServusTV die Rennen live aus der Boxengasse.