Das Feld rückt immer enger zusammen, in jedem Rennen gibt's ein neues Podium: Diese Saison hat's wirklich in sich. Mit derart vielen Überraschungen, vor allem technischer Natur, konnte man nicht rechnen. Zunächst sah es aus, als würde Fabio Quartararo nach dem Ausfall von Weltmeister Marc Marquez dessen Erbe antreten. Und plötzlich springt die KTM daher, von der man zwar wusste, dass ein Potenzial vorhanden ist und sie dauerhaft an den Top 5 knabbern kann. Dass die Mattighofner aber so einschlagen, erstaunt dann doch.
Hat das Motorrad eine gute Traktion und ist es mit dem Gas steuerbar, traue ich KTM auch beim Misano-Doppel alles zu. In Jerez, wo Leistung ebenfalls eine untergeordnete Rolle spielt, hat das kraftvolle Bike ja auch eine sehr gute Figur abgegeben. Aufgrund seiner Erfahrung sehe ich Pol Espargaro als jenen Fahrer im Team mit den aussichtsreichsten Chancen - obwohl es ihn offenkundig beschäftigt hat, dass nicht er derjenige war, der den ersten MotoGP-Sieg für den Rennstall einfahren konnte.
Ich glaube trotzdem nicht, dass er in Anbetracht des einerseits gewaltigen Sprungs von KTM und der andererseits schwächelnden Honda seinen Wechsel nach der Saison bereut. Ein Hersteller dieses Kalibers wird wohl in der Lage sein, ein siegfähiges Motorrad für einen anderen Fahrer als Marc Marquez zu bauen. Nur hat man zuletzt nie einen Piloten gehabt, der Inputs liefern konnte, um Honda breiter aufzustellen. Klar gab es bei der Verpflichtung von Jorge Lorenzo diesen Gedanken, nur war er in der Entwicklungsphase verletzt. Honda braucht unbedingt einen Typen wie Pol, der bei KTM jeden einzelnen Schritt mitgemacht, sich stets konstruktiv eingebracht und alles in Ergebnisse umgemünzt hat.
Für die in Jerez noch dominierenden Yamahas waren die Rennen in Brünn und Spielberg katastrophal. Die langsame, kurvenreiche Strecke von Misano sollte ihnen wieder entgegenkommen. Zwar wartet Yamaha unter dem Felskamm von San Marino seit 2014 auf einen Sieg, in den letzten Jahren musste das Team aber sehr leiden. WM-Spitzenreiter Quartararo bleibt jedenfalls gelassen und nagt nicht an einer Favoritenrolle, dafür ist er zu realistisch. Bei Ducati geht es indes drunter und drüber. Für Andrea Dovizioso sind die Optionen für kommende Saison gering, umso wichtiger ist es für ihn, bei jedem Rennen seine Visitenkarte abzugeben. Und dass mit Suzuki zu rechnen ist, wusste man schon von den starken Wintertests, nur kosteten die Rins-Verletzung in Jerez und der Mir-Crash in Brünn wertvolle Punkte.
Und Honda? Der größte Motorradhersteller der Welt hat Ressourcen bis zum Abwinken, es passiert aber nichts. Die Zeit ist in diesem ungewöhnlichen WM-Jahr einfach zu knapp. Am besten schlägt sich noch Takaaki Nakagami, weil man mit dem Weltmeister-Motorrad von 2019 über Vergleichswerte und Erfahrungen verfügt. Ich gehe ohnehin davon aus, dass die Satellitenteams bis zum Schluss konkurrenzfähig bleiben, da der im Normalfall zur Saisonmitte einsetzende Entwicklungs-schub bei den Werksmaschinen diesmal wegfällt.
Erstmals sind in diesem Jahr auch Zuschauer bei einem Rennen zugelassen, 10.000 Menschen dürfen täglich auf die Anlage. Man weiß, dass etwa Valentino Rossi, der nur acht Kilometer von der Strecke lebt, gerade in seinem eigenen Vorgarten mit den Fans kokettiert und spielt, so etwas kann einiges bewegen. Grundsätzlich freut sich jeder Fahrer über Zuschauer, du schreist ja deine Emotionen weniger gern in leere Ränge raus oder in eine finstere Kamera. Die Angst ist aber ein ständiger Begleiter. Der Tross reist schließlich noch durch ganz Europa und muss aufpassen, nicht in direkten Kontakt mit den Tifosi zu kommen, die nicht immer leicht zu disziplinieren sind. Andererseits müssen wir irgendwann auch wieder zurückfinden.
Zur Person:
August "Gustl" Auinger ist die österreichische Motorrad-Legende schlechthin und Riding Coach des Red Bull Rookies Cup. In der MotoGP-Saison 2020 analysiert er als Experte für ServusTV die Rennen live aus der Boxengasse.